Film

Reflexion und Film

Vermessene Realitäten – Kartografische Konstruktionen von Wirklichkeit

Eine Projektreflexion

Martin Buhlig

Film: Felix Bielefeld

Veränderte Denkmäler, eine zeichnerische Fahrradtour, virtuell projizierte Karten erstellt mit Hilfe von künstlicher Intelligenz – so unterschiedlich sind die drei künstlerischen Projekte, die im Rahmen unseres Projektes „Vermessene Realitäten – Kartografische Konstruktionen von Wirklichkeit“ entstanden sind. Alle drei Positionen eint das prozesshafte, temporäre, flüchtige – verschiedene Strategien der Annäherung an ländliche Räume, die punktuell an den jeweiligen Orten erlebbar wurden und auf digitaler Ebene zusammenfinden. Die künstlerischen Interventionen und Recherchen laden ein zur Erkundung jenseits der scheinbar festgeschriebenen Wege und geben Anlass zum Nachdenken über Konstruktionen von Wirklichkeit und ihre räumlichen Beziehungsgefüge.

Die Postmeilensäulen: ein Anlass. Eine bestehende Struktur, die die Zentren und die Peripherien verbindet, vielleicht auch: definiert. Kritische Kartographie heißt hier: Bezüge zwischen Vergangenheit und Jetzt suchen, faktisch-real, als in Stein gehauene Zeichen, Wegweiser – heute eher Monumente, aber auch: Fragen stellen nach Strukturen in den Köpfen – wo wirken alte (Macht-)Gefälle zwischen den Zentren und den „Ländlichen Räumen“ weiter, welche Vorstellungen haben wir von den jeweils anderen (Lebens-)realitäten und ist nicht die Weltkarte inzwischen verschoben, mit neuen Dynamiken zwischen dem Fernen und dem Nahen, wenn Orte wie Moria und Saporischschja auf den Wegweisern auftauchen, ins Zentrum rücken? Wie hängen wir zusammen?

Vor Allem: Fragen. Etwas herausfinden: wie kann das aussehen, ortsbezogene Künstlerische Recherche und Praxis? Was heißt es, wenn Künstler*innen eingeladen werden, sich mit Orten, ihren Beziehungsgefügen und Realitäten  auseinanderzusetzen? Bei einem Begriff wie „Kunst im öffentlichen Raum“ haben wir meist Skulptur oder Malerei vor Augen, die als dauerhafte Setzung öffentliche Orte wie Plätze oder Nischen im Stadtbild bereichern. Abgesehen davon, dass für solche dauerhafte Werke auch ein weit größerer Finanzierungsrahmen notwendig ist, haben sie auch oft den Habitus einer Geste von außen, einer einseitigen Kommunikation, die vielleicht als Gegenpol, Hinweis oder Kommentar oder Schmuck verstanden wird.

Dem gegenüber steht ein Verständnis von Kunst als Mittel der Transformation, als Anlass und Rahmen zur Begegnung, zur Forschung und zum gemeinsamen Nachdenken – über Gemeinschaft, unsere Verortung in der Welt, unsere Erinnerungskultur und auch darüber, wie wir unsere Zukunft gestalten wollen. Projekte wie „Vermessene Realitäten“ stellen Versuche dar, Annäherungen und Experimente, Forschungen und Anfänge: nicht auf der Suche nach Antworten, sondern zunächst auf der Suche nach Fragen. Auf organisatorischer Ebene bedeutet das: darüber nachdenken, was Öffentlichkeit jenseits der Metropolen bedeutet und auf welche Art und Weise gemeinsame Themen verhandelt werden können. Der städtische Habitus, in den Galerieraum, das Museum oder das Theater zu gehen, um gemeinsam nachzudenken über Themen, zur Inspiration, zum Gespräch oder zur Vernetzung stellt sich in den sogenannten Ländlichen Räume oft anders dar – manchmal fehlen Orte und Anlässe des Zusammen-Kommens inzwischen ganz. Wie können wir neue Strukturen bilden, Gemeinschaft zu stärken und Orte und Anlässe schaffen, gemeinsam ins Gespräch kommen zu Themen, die heute relevant sind?

Entsprechend schwierig ist es, im Rückblick die „Erfolge“ unserer Projekte einzuschätzen. Während im (groß-)städtischen Kunstbetrieb der Erfolg einer Ausstellung an Größen wie der Zahl der Besucher:innen oder der internationalen Strahlkraft gemessen wird, erscheinen hier andere Kriterien relevanter: welche Erfahrungen konnten gesammelt werden – auf Seiten der Besucher:innen (die möglicherweise zuvor noch keine Begegnung mit zeitgenössischen künstlerischen Positionen und Arbeitsweisen hatten), auf Seiten der Künstler:innen, die neue Orte, Strategien, Inhalte erschließen konnten oder auch Erfahrungen auf Seiten der Förderer und Projektverantwortlichen – welche Bedingungen und Strukturen braucht es, um diese forschende Arbeit zu ermöglichen? Welche Netzwerke sind entstanden, die eine Weiterentwicklung in die Zukunft ermöglichen können?

Feststellen, dass die angenommenen Polaritäten von Stadt und Land häufig so nichtmehr bestehen, Identitäten, Räume und Beziehungsgefüge hybrid geworden sind – hier wie dort. Wir fanden auch eine willkommene Gegenseitigkeit: Suchen und Finden von Akteur*innen in der Region, an den Orten, und plötzlich merken, dass während unseres Projektes parallel andere laufen, dass wir eingeladen sind, uns anzuschließen und nicht andersherum – Vernetzung, Aushandlung, Kontakt.